Tschechische Republik, Hauptstadt Prag, Viertel Hradčany, Gegenwart, Winter
„….Das Gluckern und Rauschen der Moldau, deren Schwärze unter ihm und der Brücke in den weißlichen Schwaden dahinglitt, klang aggressiv und feindselig. Es hatte nichts von den zarten, schmelzenden Klängen, mit denen Komponist Bedřich Smetana sie charakterisiert hatte. Ab und zu erklang ein leises Rumpeln, wenn kleinere Eisschollen vorbeitrieben und an den schützenden Holzbauten vor den Pfeilern zerschellten.
Das unangenehme Gefühl des Verfolgtwerdens wurde im selben Moment unerträglich. Am liebsten wäre Len gerannt, um auf sicheren, festen Boden zu gelangen.
Unvermittelt griff eine starke Hand in sein Genick, zwang ihn in eine Vorbeuge. „Her mit deiner Kohle, dem Smartphone und den Kreditkarten, Tourist“, raunte eine Stimme in gebrochenem Englisch. „Sonst stech ich dich ab und werf dich in den Fluss!“
„Ist gut! Ist gut!“ Len rang die Panik nieder und gehorchte der Anweisung. Seine Freeclimberfertigkeiten halfen überhaupt nichts bei einen Überfall. Klettersport war kein Kampfsport. Langsam nahm er den Geldbeutel aus der Tasche. „Schneller, los!“ Die Messerspitze drang zum Beweis ihrer Existenz seitlich leicht durch Mantel und Kleidung darunter. Mit etwas mehr Druck ginge sie durch die Rippen in die Lunge.
Der Moment des Überfalls war perfekt gewählt, die vielen Überwachungskameras auf der Brücke würden wegen des Nebels nichts oder nur Umrisse aufzeichnen. Len wirkte auf den Monitoren mit Sicherheit wie jemand, der seinen Glühwein in die Moldau kotzte und von seinem Kumpel gehalten wurde.
Handy und Geldbeutel samt Kreditkarten wechselten unauffällig den Besitzer. „Was noch?“ Der Unbekannte ließ den Nacken los. „Uhr? Hast du ‘ne Uhr? Schmuck?“ Er tastete Len mit einer Hand ab. „Schmuck, los! Schmuck!“
Len schüttelte behutsam den Kopf. Er zitterte vor Furcht. „Da hat was geblinkt. Rechts. Was ist das für ein …?“, setzte der Räuber nach und wollte den Ärmel des Anoraks hinabstreifen, um nach Armbändern zu suchen – als sowohl seine tastenden Finger als auch das Messer ruckartig von Lens Körper verschwanden.
Gleichzeitig gellte ein lauter Schmerzens- und Angstschrei durch die Nacht.
Len sah über die Schulter und wagte sich nicht vom Fleck, klammerte sich an die Brüstung, um weder hinabzustürzen noch weggezerrt zu werden.
Sein Angreifer, der das Gesicht unter einer Sturmmaske verborgen hatte, lag rücklings auf den Steinen, neben ihm sein abgetrennter rechter Arm; die Finger hielten das Messer umschlossen. Blut schoss im Takt des rasch schlagenden Herzens aus dem zerfransten Stumpf unterhalb der Schulter.
Über ihm stand eine Mischung aus Irischem Wolfshund und Dobermann, das schwarzgraue Fell ragte im Nacken und den Rücken entlang drohend auf. Die Lefzen und das Maul waren rot vom Blut des Mannes, der abwehrend den anderen Arm in die Höhe hielt. Ein dunkles Grollen rollte aus dem Schlund, der Atem quoll dicker als der Nebel aus der Schnauze. ….“
ET: 21.8.2023