Königreich Ungarn, nahe dem Dorf Hordó, 6. August Anno Domini 1416
(…) „Willkommen in Izvorul Subteran“, bereitete Cosmin den Einzug vor. „Wir haben ein kleines Fest für Euch vorbereitet. Ich hoffe, es ist Euch recht, Königin.“
Nebeneinander traten sie aus dem Tunnel und gelangten in eine Höhle, die sich über hundert Schritte erstreckte und an ihrer höchsten Stelle geschätzt dreißig Schritte aufstieg.
Die andauernde Helligkeit in der Stadt glich der einer wolkenlosen Vollmondnacht, in warmen Sand- und Orangetönen. Hellere Laternen an Gebäuden, an Ketten gespannte Kronleuchter über bestimmten Straßen und Plätzen setzten Akzente, und Blendlaternen strahlten besonders schön gestaltete Fassaden an. Mit dünnen, polierten Blechelementen wurde das Licht diffus gestreut.
Die Strigoi hatten teils den natürlichen Schwung des Felses belassen, die Stalagmiten und Stalaktiten durch Beleuchtung betont. Mitunter waren die Hausfronten, die aus und in die Wand gegraben worden waren, kaum von antiken Tempeln zu unterscheiden. Runde und eckige Säulen, Friese, Inschriften, Mosaiken und Fresken überall. Fast schien es Barbara, als träten jeden Moment die Philosophen und Feldherrn aus längst vergessenen Jahrhunderten in Toga und Tunika heraus.
Barbara kannte Abbilder dieser Pracht nur in Form zerschlagener Ruinen oder von Zeichnungen aus Rom. Sie hatte eine Vorstellung, wie viele Sklaven dafür in der Vergangenheit ihre Leben gelassen hatten.
Aus dem Augenwinkel registrierte sie, wie Vlad und Sorin staunten. Die Eindrücke machten die Grausamkeit Cosmins einige Momente lang vergessen. An dieser Pracht musste man sich erst sattsehen.
„Izvorul Subteran gefällt Euch“, bemerkte der Fürst zufrieden. „Gehen wir in meinen Palast. Dort erwartet Euch die illustre Gesellschaft.“ Erneut übernahm er die Führung durch die leeren Straßen, da sich sämtliche Bewohner in der Halle zum Empfang versammelt hatten.
Die Stille fand Barbara befremdlich. Weder vernahm sie Vogelstimmen noch das Geräusch von Wind in den Bäumen, von raschelndem Gras oder irgendetwas Lebendigem.
„Hier gibt es viel Tod“, raunte Sorin und zog die Nase hoch. „Ich kann ihn riechen.“
Je näher sie der tempelgleichen Fassade des Palastes kamen, umso mehr Töne durchbrachen die gespenstige Stille. Aus weiter Entfernung erklang beständiges Rauschen wie von einem Wasserfall. Stimmengewirr drang aus den geöffneten Türen des Gebäudes, begleitet vom Spiel verschiedener Instrumente und Schlagwerk, die einen angenehmem Klangteppich woben.
„Was sagt Ihr dazu?“, erkundigte sich Ema, die plötzlich neben Barbara lief. Die Stimme war die eines Kindes von acht Jahren, aber die Augen verrieten, dass sie längst keines mehr war. Nicht nach dem, was sie alles erlebt hatte und was ihr angetan worden war. „Wäre so eine Residenz nicht auch wundervoll für Euch?“
„Nein“, antwortete Barbara ehrlich. „Ich brauche Sonne, Vogelgezwitscher und eine weite Sicht in die Ferne, um mit gutem Gefühl leben zu können.“
„Oh, Vögel haben wir! Sie kommen ab und zu durch schmale Spalte. Ich mag es, wenn sie singen. Aber meistens fliegen sie wieder davon. Oder sterben.“ Ema schaute betrübt und strich das rot-weiße Kleid glatt, richtete den Sitz ihres Gürtels. „Es ist lange her, dass ich die Sonne gesehen habe. Aber ich erinnere mich an das Gefühl auf der Haut.“ Sie umarmte sich selbst, wiegte sachte im Gehen nach rechts und links. Die Edelsteine in ihrem Haarnetz flirrten dabei. „Wohlig und von einer Wärme, wie es sonst nichts gibt. Sie scheint bis in die Seele.“…
ET: 21.8.2023